Sie war Austauschstudentin. Wir wohnten zusammen. Wir studierten beide Germanistik im ersten Semester. Sie war nur wenig größer und älter als ich. Wir verstanden uns vom ersten Augenblick an gut, aber wir erkannten erst viel später, wie ähnlich wir uns wirklich waren.
Abends saßen wir entweder in ihrem Zimmer oder in meinem, redeten, lernten, oft gingen wir spazieren unter Sternen. Wir hatten beide einen heimlichen Freund, den unsere Eltern nicht kannten und von dem sie auch nicht begeistert gewesen wären. Die Namen unserer Freunde begannen mit demselben Anfangsbuchstaben und sie wohnten in derselben Gegend. Trotzdem fuhren wir nie gemeinsam dorthin. Ihrer war etwa 10 Jahre älter, meiner ein halbes Jahr jünger als wir. Ihrer fuhr Porsche und meiner VW. Ihrer machte ihr teure Geschenke. Meiner schenkte mir Worte.
Nach einem Wochenende, das wir beide bei unseren anfangsbuchstabengleichen Freunden verbracht hatten, lag bei uns beiden Trennung in der Luft. Fast war es schön, fast romantisch, dies parallel zu erleben. Frustshopping. Gemeinsam weinen.
Dann erhielt sie Briefe. Viele Briefe. Ich fragte sie nicht. Erst als ihre Schreibtischschublade so voll war mit diesen Briefen, dass sie sie nicht mehr zubekam. Sie hatte jeden Brief sorgfältig geöffnet, einmal gelesen und in die Schublade gelegt. Sie schrieb nie zurück. „Liebesbriefe“, sagte sie. Zeigte mir einen. Herzallerliebst. Von einem Mann, der nach dem Herzen ihrer Eltern wäre, aber nicht nach ihrem. Der sich in ihren Anblick verliebt hatte, der sie bei sich haben wollte, ohne sie wirklich zu kennen.
Seine Beharrlichkeit beeindruckte mich.
Unsere Abendspaziergänge und gemeinsame Zeiten reduzierten sich drastisch.
Sie traf sich mehrmals mit ihm.
Er küsste sie.
Er machte ihr einen Heiratsantrag.
Sie lehnte ab.
Zur selben Zeit machte mir der Assistent meines Vaters ebenfalls einen Heiratsantrag. Wir hatten viel Zeit miteinander verbracht. Ich mochte sein Interesse an mir. Ich mochte ihn gegen meine Einsamkeit und gegen die Unbeständigkeit meiner Beziehung und meiner Freundschaft zu Lena. Er fand, wir würden zusammenpassen. Sein Heiratsantrag war dennoch absurd!
Ich lehnte ab.
Wir waren noch keine 20 und unsere Leben so unfassbar parallel in kleinen, absurden Details.
Nur eines unserer beider Leben wäre unglaubwürdig genug gewesen!
Ich konnte so gut mit ihr reden.
Jedoch ließen wir es immer mehr.
Zu unheimlich waren die Verschlungenheiten unserer Leben.
Schließlich musste sie zurück in das Land ihrer Staatsbürgerschaft.
Am Abend vorher saßen wir in ihrem Zimmer. Sie packte. Ich war traurig.
„Wir schreiben uns“, sagte sie. „Und wenn wir einmal heiraten, laden wir uns zur Hochzeit ein.“ Ein Grinsen. Und das Gefühl, schon genug Heiratsanträge und Herzschmerz erlebt zu haben.
Ich konnte sie nicht zum Zug bringen.
Wir schrieben uns vielleicht noch ein halbes Jahr lang Mails.
Dann gab es ihre Emailadresse nicht mehr.
Manchmal vermisse ich sie. Ich wüsste gerne, wie es ihr geht und wie ihr Leben weiterging. Aber vielleicht lebe ich es ja…