Wir schlossen Türen.
Wir machten alle Lichter aus und zündeten Kerzen an.
Unabhängig voneinander.
Per Mail hatten wir uns verabredet.
Im Chat.
Es geschah instinktiv.
Wir spürten einfach, dass absolute Ruhe, absolute Unabgelenktheit der Situation angemessen wäre.
Es war aufregend wie ein erstes Date.
Es war Nacht. Und draußen wurde es Herbst.
Es war ein erstes Date. Auch wenn Kilometer uns trennten. Und wir nur hinter Röhrenmonitoren saßen.
Da war Zuneigung. Es war ein Kennenlernen. Und wir gestanden uns im Schein der Kerzen, nur bei Kerzenschein zu sitzen.
Wir waren fasziniert voneinander. Ohne Ziel und ohne, dass wir es beabsichtig hätten. Die Nacht wurde lang. Die Anziehung, die Sympathie, die Zuneigung, sie hielten uns online, obwohl wir pro Minute bezahlten, obwohl das Modem uns manchmal trennte.
Wir schrieben uns eMails. Ellenlange eMails. Wir teilten uns unser Innerstes mit, bevor wir unser Äußeres gesehen hatten. Und wir begannen, das Innere zu mögen, zu lieben, zu begehren. Wir hatten einander nie gesehen.
„Das gibts nicht“, sagten die Leute. „Ihr kennt euch ja gar nicht.“
Aber ich hatte das Gefühl, ihn zu kennen. Ihn näher und besser zu kennen als andere, denen ich tief in die Augen geblickt hatte.
Sehnsucht nach den tiefen Augenblicken hatten wir dennoch. Auch nach der Stimme, dem Tonfall, dem Wortlaut, dem Ausdruck. Und dem Geruch.
Als wir zum ersten Mal telefonierten, war es wieder Nacht und es wurde immernoch Herbst. Ich war aufgeregt. Ich befürchtete, seine Stimme würde nicht zu dem Menschen passen, den ich in ihm sah. Meine Befürchtungen waren umsonst. Seine Stimme war schön, seine Worte längst vertraut und manche Wörter sprach er so aus, dass ich mich in Klänge verliebte. Und er fand meine Stimme einzigartig und wunderbar. Ich saß vor dem Spiegel und schaute mir in die Augen, während ich mit ihm sprach. Wir wollten nicht mehr auflegen, so schön war die neugewonnenen Nähe.
„Kann es Liebe sein?“ fragte er. „Kann das, was ich fühle, Liebe sein?“ „Nein“, sagte ich. Denn ich war mir sicher, dass nur Worte und Stimme zur Liebe nicht reichten. „Aber was ist es dann?“ fragte er. Ja, was ist es, was? „Vielleicht ist es Liebe“, gestand ich ihm zu, „aber eine in Etwas, das nicht ganz existiert.“
Er wünschte sich ein Bild von mir. Ich hatte Angst vor so viel Realität. Doch je länger wir es aufschoben, desto absurder wurden all die Gefühle. Wir mußten diesen Vorhang auch noch beiseite schieben. Ganz langsam wurde es Winter. Und wir tauschten unsere Fotos per Mail. Wir schickten sie gleichzeitig ab. Verbrachten die Zeit der Übertragung miteinander im Chat. Was würde sich verändern? Was, wenn es optisch überhaupt nicht passte? Waren diese Minuten dann vielleicht unsere letzten? Wir genossen unsere Aufregung sogar ein bisschen, genossen die exakt gleiche Situation, in der wir uns befanden. Es war wie ein Beistehen unter guten Freunden. Und wieder wurden wir überhaupt nicht enttäuscht. Und wieder ergab sich eine neue, eine andere Nähe. Eine neue, eine andere Bekanntheit.
Worte und Stimme und Bild.
„Ich habe von dir geträumt“, sagte er eines Nachts am Telefon, „davon, wie du bei mir warst.“
Ich wollte alles über mich wissen.
Ich hatte Angst, nicht an seine realen Erwartungen heranzureichen. Aber in seinen Vorstellungen fand ich mich wieder. Tatsächlich träumte er von mir, nicht von einem Mädchen mit meiner Stimme, meinem Aussehen, meinen Worten.
Wir wollten uns treffen. Aber das war schwierig. Wir waren 18, Geld hatten wir nicht allzu oft übrig. So verging der Winter. Und der Frühling kam. Und dann beschloss ich, ihn zu besuchen. Ich befürchtete, dass danach nichts mehr wäre wie vorher. Aber da war Liebe, Zuneigung, Nähe und Achtung. Und Spannung. Ich hatte das Gefühl, ihn wahnsinnig gut zu kennen, hatte tiefer blicken dürfen und ihn tiefer blicken lassen als manch anderer Freund. Wie groß würde der Verlust, wie groß die Desillusion sein, wenn wir uns endlich Wirklichkeit werden ließen?
Während der Reise telefonierten wir viel. Wir hatten uns erst kurz zuvor Handys gekauft. Und wir waren sehr stolz darauf. Aber der eigentliche Grund war, dass wir einander wieder als gute Freunde brauchten, als Beistand vielleicht, weil die Aufregung so unerträglich war und wir nicht abschätzen konnten, was passieren würde. Wir waren uns so vertraut und hatten doch Angst vor der wahren Realität. Doch auch hier waren alle Ängste vergebens. Nichts änderte sich wirklich. Nur die Sehnsucht steigerte sich, der Wunsch nach viel mehr Nähe als uns möglich war. Alle Aspekte, die wir aus der virtuellen Welt in die Realität transportierten, erwiesen sich als kongruent.
Vielleicht ist es wirklich dieselbe Liebe – ob sie nun mit Worten und ohne Gesicht oder mit Gesicht ohne Worte beginnt.
______________
wie es weiterging