Katerstimmung

euphorische stimmung
das gefühl, man habe die welt unter sich
die vögel zwitschern schon
in unserem blut ist alkohol
und wir laufen über asphalt
und ich denke, ich möchte barfuss gehen
und ich friere ein bisschen
unter straßenlaternen
auf dem heimweg

tiefer schlaf
das gefühl, man könnte ewig nur schlafen
die sonne streift die bettdecke
in unserem blut ist alkohol
und die träume ziehen verquere bahnen
und ich denke, ich möchte erwachen
und ich schlafe doch einfach weiter
unter warmen decken
neben dir

neben der spur
das gefühl, man habe die kunst des lassens gelernt
und man bräuchte nichts mehr als wasser und ruhe
um den alkohol in unserem blut zu verwässern
und die stunden vergehen
und ich denke an vergangene nacht
und ich und ich gammel herum
und ich fühle mich wohl
trotz kopfweh und zu wenig schlaf
neben dir

Augenblick

Manchmal, ganz selten,
meistens dann, wenn man es tief im Inneren braucht,
aber überhaupt nicht erwartet,
begegnet man diesen besonderen Menschen,
mit denen man sich auf den ersten Blick versteht,
wenn man sie auch nur für einen Augenblick um sich hat.
In einer Situation, die überhaupt nicht privat ist
und überhaupt nichts hergibt,
ist man ganz selbstverständlich per Du,
fühlt sich ganz selbstverständlich angenommen.
Ganz nebenbei gewinnt man
den gerade verloren geglaubten Glauben
an das Gute im Menschen zurück.

Existenzielles

Meine Sorgen waren so groß, dass ich sie alleine nicht mehr tragen konnte und so schwer, dass ich allein nichts gegen sie unternehmen konnte. Und ich sagte: „Gott, ich weiß keinen Rat und keinen Weg mehr. Mir fällt niemand ein, der meinen Sorgen gewachsen wäre – nur noch Dir traue ich eine Lösung zu. Es wäre so schön, wenn ich nicht ins Leere reden würde und wenn ich spüren könnte,  dass Du da bist und ich nicht so allein bin mit mir und dem Sorgenberg.“
Und hatte doch gleichzeitig ein wenig Angst vor solchen Gotteserwartungen.
Ich rollte mich zusammen und plötzlich war da eine wohltuende Wärme, die mich angenehm umhüllte. Und ich fühlte mich aufgehoben, wie hochgehoben, von einer Stärke, die keinen Körper hatte und angeschmiegt an eine Weichheit, die reine Nähe war.
Oh, wow!

und endlich ganz nah

Als er mir sagte, dass er das Gefühl habe, mich nicht mehr ausreichend zu lieben, erschrak ich leicht und spürte doch ganz tief darunter keine Wirkung. Ich lächelte und sagte: „Vielleicht reichen meine Gefühle ja für uns beide aus.“ Und er drehte sich weg. Ein unsicherer Tag durchstreifte uns beide. Seine Gefühle flammten nicht auf, auch nicht am Abend. Er fragte: „Was mache ich, wenn ich dich nicht mehr lieben kann?“ Und er schaute mich an und vergrub sich, als es Nacht wurde, an meiner Schulter. Ich streichelte ihm über sein Haar. Sanft, liebevoll, trösend und nah. Und plötzlich erkannte ichs: „Du liebst mich doch! Gar nicht weniger. Nur anders. Heute zerspringst Du nicht vor Glück, sondern Du weinst an meiner Schulter. Du lässt mich Freundin sein und Tröstende und Liebende und endlich ganz nah!“ „Ja“, sagte er schließlich, „ja!“

Befreiend, zu begreifen,
dass Gefühle nicht statisch sind,
nicht statisch sein müssen.

der Unterschied

Dir bedeutet sie sicher etwas,
aber mir bedeutet sie alles.
Wenn ihr etwas geschieht,
dann wirst Du Dir vielleicht ein Leben lang Vorwürfe machen,
aber ich werde damit leben. Jeden Tag.

das Quäntchen Individuum

Kennst Du das,
wenn Du Dich ganz nah an mich schmiegst
und wir uns körperlich näher nicht mehr sein können
und im Gefühl trotzdem noch ein bisschen fehlt?
Dann will ich in Dich reinkriechen,
Dich um mich hüllen wie einen Mantel,
wie eine zweite Haut,
und uns als eins fühlen.

Rot

Rot ist wunderbar.
Ich kenne die Schleuse am Zoo und den Schleusenkrug;
ich habe dort auch schon gegessen,
damals, als das Jahr 2000 noch futuristisch klang,
nach Spaziergängen mit den Eltern,
meist Eis.
Ich habe den Schiffen gewinkt
und Ausflügler winkten zurück.
Ganz nah hörte ich hinter dem schwappenden Wasser die Tiere im Zoo.
Und die Sonne schien und die Bienen liebten mein Haar.
Ich kenne den Berliner Altbau,
höre in meiner Vorstellung das Knarren grober Dielen,
das Huschen besockter Füße.
Es ist nicht nur die geografische Nähe,
die ich in den Beschreibungen fühle,
es ist insgesamt Nähe,
die ich fühle, wie ein tiefes Kennen.
Und ich trage das leinengebundene Buch durch ein Schneeflockentreiben
und bin so glücklich,
dass es sich auch von außen so gut anfühlt!

sweet eighteen

Wir schlossen Türen.
Wir machten alle Lichter aus und zündeten Kerzen an.
Unabhängig voneinander.
Per Mail hatten wir uns verabredet.
Im Chat.
Es geschah instinktiv.
Wir spürten einfach, dass absolute Ruhe, absolute Unabgelenktheit der Situation angemessen wäre.
Es war aufregend wie ein erstes Date.
Es war Nacht. Und draußen wurde es Herbst.

Es war ein erstes Date. Auch wenn Kilometer uns trennten. Und wir nur hinter Röhrenmonitoren saßen.
Da war Zuneigung. Es war ein Kennenlernen. Und wir gestanden uns im Schein der Kerzen, nur bei Kerzenschein zu sitzen.
Wir waren fasziniert voneinander. Ohne Ziel und ohne, dass wir es beabsichtig hätten. Die Nacht wurde lang. Die Anziehung, die Sympathie, die Zuneigung, sie hielten uns online, obwohl wir pro Minute bezahlten, obwohl das Modem uns manchmal trennte.

Wir schrieben uns eMails. Ellenlange eMails. Wir teilten uns unser Innerstes mit, bevor wir unser Äußeres gesehen hatten. Und wir begannen, das Innere zu mögen, zu lieben, zu begehren. Wir hatten einander nie gesehen.

„Das gibts nicht“, sagten die Leute. „Ihr kennt euch ja gar nicht.“
Aber ich hatte das Gefühl, ihn zu kennen. Ihn näher und besser zu kennen als andere, denen ich tief in die Augen geblickt hatte.

Sehnsucht nach den tiefen Augenblicken hatten wir dennoch. Auch nach der Stimme, dem Tonfall, dem Wortlaut, dem Ausdruck. Und dem Geruch.

Als wir zum ersten Mal telefonierten, war es wieder Nacht und es wurde immernoch Herbst. Ich war aufgeregt. Ich befürchtete, seine Stimme würde nicht zu dem Menschen passen, den ich in ihm sah. Meine Befürchtungen waren umsonst. Seine Stimme war schön, seine Worte längst vertraut und manche Wörter sprach er so aus, dass ich mich in Klänge verliebte. Und er fand meine Stimme einzigartig und wunderbar. Ich saß vor dem Spiegel und schaute mir in die Augen, während ich mit ihm sprach. Wir wollten nicht mehr auflegen, so schön war die neugewonnenen Nähe.

„Kann es Liebe sein?“ fragte er. „Kann das, was ich fühle, Liebe sein?“ „Nein“, sagte ich. Denn ich war mir sicher, dass nur Worte und Stimme zur Liebe nicht reichten. „Aber was ist es dann?“ fragte er. Ja, was ist es, was? „Vielleicht ist es Liebe“, gestand ich ihm zu, „aber eine in Etwas, das nicht ganz existiert.“

Er wünschte sich ein Bild von mir. Ich hatte Angst vor so viel Realität. Doch je länger wir es aufschoben, desto absurder wurden all die Gefühle. Wir mußten diesen Vorhang auch noch beiseite schieben. Ganz langsam wurde es Winter. Und wir tauschten unsere Fotos per Mail. Wir schickten sie gleichzeitig ab. Verbrachten die Zeit der Übertragung miteinander im Chat. Was würde sich verändern? Was, wenn es optisch überhaupt nicht passte? Waren diese Minuten dann vielleicht unsere letzten? Wir genossen unsere Aufregung sogar ein bisschen, genossen die exakt gleiche Situation, in der wir uns befanden. Es war wie ein Beistehen unter guten Freunden. Und wieder wurden wir überhaupt nicht enttäuscht. Und wieder ergab sich eine neue, eine andere Nähe. Eine neue, eine andere Bekanntheit.

Worte und Stimme und Bild.
„Ich habe von dir geträumt“, sagte er eines Nachts am Telefon, „davon, wie du bei mir warst.“
Ich wollte alles über mich wissen.
Ich hatte Angst, nicht an seine realen Erwartungen heranzureichen. Aber in seinen Vorstellungen fand ich mich wieder. Tatsächlich träumte er von mir, nicht von einem Mädchen mit meiner Stimme, meinem Aussehen, meinen Worten.

Wir wollten uns treffen. Aber das war schwierig. Wir waren 18, Geld hatten wir nicht allzu oft übrig. So verging der Winter. Und der Frühling kam. Und dann beschloss ich, ihn zu besuchen. Ich befürchtete, dass danach nichts mehr wäre wie vorher. Aber da war Liebe, Zuneigung, Nähe und Achtung. Und Spannung. Ich hatte das Gefühl, ihn wahnsinnig gut zu kennen, hatte tiefer blicken dürfen und ihn tiefer blicken lassen als manch anderer Freund. Wie groß würde der Verlust, wie groß die Desillusion sein, wenn wir uns endlich Wirklichkeit werden ließen?

Während der Reise telefonierten wir viel. Wir hatten uns erst kurz zuvor Handys gekauft. Und wir waren sehr stolz darauf. Aber der eigentliche Grund war, dass wir einander wieder als gute Freunde brauchten, als Beistand vielleicht, weil die Aufregung so unerträglich war und wir nicht abschätzen konnten, was passieren würde. Wir waren uns so vertraut und hatten doch Angst vor der wahren Realität. Doch auch hier waren alle Ängste vergebens. Nichts änderte sich wirklich. Nur die Sehnsucht steigerte sich, der Wunsch nach viel mehr Nähe als uns möglich war. Alle Aspekte, die wir aus der virtuellen Welt in die Realität transportierten, erwiesen sich als kongruent.

Vielleicht ist es wirklich dieselbe Liebe – ob sie nun mit Worten und ohne Gesicht oder mit Gesicht ohne Worte beginnt.

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wie es weiterging

innig

Im Grunde gibt es trotzdem nur uns zwei. Auf der ganzen Welt. Es ist alles schön und gut und bereichernd. Aber manchmal erscheint es mir wie eine Illusion. Vielleicht ist die ganze Welt nur ein Film. Oder vielleicht eine Kulisse. Vor der wir zwei stehen. Und nur wir zwei sind echt. Das Umfeld bringt das Beste und das Schlechteste aus uns hervor. Es schafft uns Situationen, in denen wir einander bewundern können, an denen wir uns selbst reflektieren können, durch die wir uns verändern können. Wir aber, wir kommen uns immer näher, egal was passiert. Als wär das Drehbuch schon fertig geschrieben, das Happy End schon sicher. Es endet nicht bei innigen Versprechungen, es endet im Herzen. Es endet in der Tiefe. Näher komm ich dir nicht. Und das ist nicht einmal annähernd nah genug für das, was ich fühle.

Ausgleich

Oh bitte, warte nicht auf mich, sage ich. Denn ich bin unzuverlässig. Und unpünktlich. Lasse mich gerne hinreißen und ablenken und finde es in höchstem Maße befreiend, ganz nach meinem Gefühl zu re-agieren. Nein, warte nicht auf mich.
Aber Du, Du sagst: Ich warte immer auf Dich. Das macht mir nichts aus, auf Dich warte ich gerne. Und manchmal, da sehe ich Dir zu, wie Du Dich verläufst, wie Du Dich bewegst und verströmst. Und dann folge ich Deinen Spuren ein Stückchen und staune, wohin sie mich bringen. Ich warte gerne auf Dich. Denn dann ist mein Kopf voller Gedanken an Dich, schön wie Blumen im Haar, erfrischend wie Eis im Cocktail.
Und staunend fühle ich mich Dir so nah, weil Du mit warmer Liebe meinen Mangel so wundersam ausgleichst.

Hinblick

Sie lässt nach,
die Sehnsucht,
das Bedürfnis,
dich ständig zu berühren,
dich immerzu um mich haben zu wollen,
lässt nach.

Entfremden wir uns?
Entfernst du dich von mir?
Ich klammere mich fest.
Hektisch und ängstlich.
Rede, ohne etwas zu sagen,
halte, ohne die Nähe zu genießen,
wünsche, ohne einen Wunsch.

Ich klammere,
klammere mich fest.
Und merke gar nicht,
dass die Sehnsucht nur ging,
weil wir sie nicht mehr brauchten,
weil unsere Nähe so nah geworden war.
Merke gar nicht,
dass das Bedürfnis, dich ständig zu berühren,
gar nicht gewichen ist, ich dich einfach nur
schon ständig berühre.
Und dass der Wunsch,
dich ständig um mich zu haben,
schon Realität geworden ist.

ausgesprochen

Ist es nicht verwunderlich,
dass ich mich die ganze Zeit über als gute, seine beste Freundin fühlte,
sowas wie Liebe oder gar Liebe empfand, verströmte und empfing,
und es sich doch,
obwohl sich NICHTS änderte,
noch ein bisschen erhabener anfühlte, als er mich Freundin nannte?

Tändelei

Am ersten Abend erzählte er mir, dass er gerade im Bereich asiatische Ethnologien promovierte. Das fand ich spannend, schrieb ich doch gerade meine Diplomarbeit über kulturelle Wahrnehmungsunterschiede. Dennoch spielte diese Thematik kaum eine Rolle in unseren folgenden Treffen und Gesprächen. Wir genossen das Berliner Nachtleben, Sommerwochenenden an der Spree und dem Wannsee, parallele Nachtarbeit und Alkohol. Berlin, meinte er, sei seine Heimat geworden in den letzten zwei Jahren. Dass man innerhalb von zwei Jahren eine Stadt zur Heimat machen kann, war mir fremd. Wir aßen nie gemeinsam, wir tranken. Wir tranken uns attraktiv und erfolgreich, emotionslos-glücklich und kreativ. Wir rutschten in eine filmische Realität, berührten einander mal zögernd, mal verlangend, küssten uns wild im Rausch und ließen es doch meistens bei tiefen Blicken und süßen Worten.

Als ich erfuhr, dass er gar nicht promovierte, es nie hatte, nie vorgehabt hatte, dass ihn Asien nicht einmal interessierte, störte mich das nicht. Ich warf ihm nichts vor, überging es einfach, obwohl es mich sonst grundlegend stört, angelogen zu werden.
Als er Wochen später erwähnte, dass er eine Freundin habe, ging es mir ebenso.
Obwohl ich ihm ohne diese Informationen wahrscheinlich nicht so nahe gekommen wäre.
Weil ich ihm ohne diese Täuschungen nicht so nahe gekommen wäre?

das Spiel

Die Haare hochgesteckt, ein unschuldiger Blick, ein wenig zu viel Schminke auf rosigen Wangen und unschuldigen Lippen, hohe Schuhe, der Gang leicht stelzend, ein zu kurzer Rock und ein zu tiefer Ausschnitt. Sie fühlt die Blicke, will sich weiblich fühlen, fühlt sich unsicher. Er gibt ihr ein Bier. Sie trinkt es aus der Flasche. Sie trinkt es, obwohl es ihr nicht schmeckt. Sie trinkt noch eins. Und noch eins. Er fragt, ob sie tanzen will. Sie ist stolz, dass er sie bemerkt hat. Er wirkt männlich. Er wirkt erfahren. Sie tanzt und spürt seine Hände. Seine Nähe genießt sie, aber er ist zu aufdringlich und sie kann die Grenze nicht ziehen. Er zieht sie zu sich. Sie schmiegt sich an, obwohl sie sich wegdrehen will. Ihr erster Kuss schmeckt nach Rauch und Bier und sie wird sich später nicht an den erinnern können, der ihn ihr gab. Ihr Kopf wird schwer vom Bier. Sie sehnt sich nach ihrem Bett, nach Schlaf und nach ihrer Decke. Er fasst ihr an die Brust. Sie lässt es zu. Weil sie ihn nicht kränken will. Er fasst ihr unter den figurumspielenden Pullover. Sie lässt es zu. Weil sie sich noch einmal an ihn schmiegen will. Sie denkt, das sei der Preis für Nähe. Er macht die Regeln, weil sie das Spiel noch nicht kennt.